Zuerst muss er etwas zeigen. Es ist ein Gerät aus mattem, schwarzem Plastik. Ein runder blauer Knopf in der Mitte, vier kleine blaue Knöpfe darum herum. Darunter das Logo: „Audible“. Don Katz hat das Gerät und ein paar Entwurfszeichnungen in eine Vitrine gestellt hier in seinem Büro in Newark im US-Bundesstaat New Jersey, einer Kleinstadt nur ein paar Zugminuten entfernt von New York. Besucher bringt Katz gern zuerst zu dem Gerät in der Vitrine. Mit ihm hat alles angefangen. „Es hat jetzt bald 20. Geburtstag, ist das nicht unglaublich?“, sagt er.
Don Katz hat das Gerät erfunden, gemeinsam mit ein paar Helfern, die sich besser mit Technik auskannten als er. Katz ist Journalist, er kann keine Elektrogeräte entwickeln. Aber er hatte die Idee dazu. Das schwarze Ding in der Vitrine ist ein digitales Abspielgerät, es konnte zwei Stunden Hörbücher abspielen und kostete 200 Dollar. Katz und seine Helfer haben es gebaut, als Apple noch nichts anderes als Computer verkaufte. Vier Jahre vor dem iPod, als die meisten Menschen noch mit einem Walkman Musik hörten und tragbare CD-Player als moderne Technik galten. „Was ist denn das für ein Ding?“, hätten ihn die Leute damals gefragt, erzählt Katz. Sie hätten gar nicht verstanden, was sie damit anfangen sollten. Es hat sich nicht besonders gut verkauft.
Nur Steve Jobs, der Chef von Apple, hat damals verstanden, was das Gerät kann. Ein paar Monate, bevor Apple den iPod auf den Markt brachte, rief Jobs bei Katz an und bestellte ihn nach Kalifornien. „Ich will dir etwas zeigen“, sagte er. „Etwas Geheimes.“ Also flog Katz zu Apple und war einer der ersten Menschen, die den iPod zu sehen bekamen. „Steve Jobs hat unser Gerät gelobt damals“, erzählt Katz. „Und Steve Jobs hat sonst nie Dinge gelobt, die nicht von Apple kamen.“
Don Katz hat eine der wildesten Karrieren der amerikanischen Wirtschaftswelt gemacht. Wie viele Journalisten werden schon Erfinder und Unternehmensgründer? Wie viele Menschen bringen ihr junges Tech-Unternehmen kurz vor dem Platzen der Dot.com-Blase an die Börse und gehen trotzdem nicht pleite? Wie viele Gründer schaffen es, ihre Tech-Firmen für viel Geld an Amazon zu verkaufen und danach trotzdem weiter Vorstandschef zu bleiben? Katz ist selbst manchmal überrascht, wie sich sein Leben entwickelt hat.
Katz‘ Unternehmen heißt Audible. Die Sache mit dem schwarzen, klobigen Abspielgerät aus der Vitrine hat nicht geklappt. „Wir waren zu früh dran, der Markt war noch nicht bereit dafür“, sagt er. Als Apple den iPod herausbrachte und eine Millionensumme allein für das Marketing ausgab, von der Katz für sein gesamtes Start-up nicht einmal träumte, wurde ihm bewusst, dass er in diesem Wettbewerb nicht mithalten konnte. „Meine Frau hat gesagt, Hardware sei sexy“, sagt Katz. „Aber mir war klar, dass es nicht funktionieren würde. Es ist ein Massengeschäft mit niedrigen Margen.“
Also spezialisierte er sich auf die Inhalte, auf die Hörbücher selbst. Heute ist Audible der größte Anbieter und Produzent digitaler Hörbücher und Hörspiele. Ein eigenes Gerät bietet die Firma nicht mehr an, Audible hat eine App, mit der man die Hörbücher auf Geräten anderer Firmen anhören kann, zum Beispiel dem iPhone.
Katz ist jetzt 65 Jahre alt und sieht mindestens zehn Jahre jünger aus. Rotblond-graue Wuschelfrisur, Drei-Tage-Bart, Jeans, Turnschuhe, fester Händedruck. Er spielt zweimal die Woche Eishockey. Früher schrieb er lange Artikel für Magazine wie Esquire und den Rolling Stone und auch ein paar Sachbücher, manche wurden Bestseller. Heute kennt er jeden, der etwas zu sagen hat in der Hightech-Branche. Jeff Bezos, der Chef von Amazon? „Mit dem Jeff bin ich schon lange befreundet, wir hatten damals die gleichen Investoren“, sagt Katz. Jack Dorsey, der Chef des Kurznachrichtendienstes Twitter? „Dem Jack habe ich neulich mal gesagt, dass ich nicht gedacht hätte, dass ich mich mal auf 140 Zeichen würde beschränken müssen.“
Er war damals, als es losging mit Audible, nicht mehr recht glücklich als Journalist. Sein Buch „Home Fires“ war besser als alles, was er jemals würde schreiben können, dachte er. „Und dann gab es da noch ein Problem: Die einzige Sache, die ich meinen Lesern nie würde geben können, ist mehr Zeit zum Lesen.“ Die Welt schien sich immer schneller zu drehen. Die Artikel, die er für die Magazine schreiben sollte, wurden immer kürzer und immer weniger spannend. Er schrieb gerade an einen Buch über neue Technik und digitale Medien und sprach dafür mit Menschen von Universitäten und aus dem Silicon Valley über das Internet und Speichermedien.
Und dann kam ihm die Idee. Katz liebte Audiobücher schon immer. „Gerade amerikanische Literatur beruht so sehr darauf, wie Amerikaner sprechen, wie wir angeben zum Beispiel“, sagt er. „Vorgelesen zu bekommen ist eine ganz besondere, intime Erfahrung. Es erinnert einen an eine glückliche Kindheit.“ Katz war außerdem ein großer Jogger, er rannte entlang des Hudson Rivers, damals auf der New Yorker Seite. Immer mit dabei: seine Hörbücher. Es war eine klobige Angelegenheit. Er hatte die Kassetten und den Walkman in seiner Bauchtasche. Ständig musste er die Seiten und die Kassetten wechseln, ständig verhedderten sich die Bänder, die Kassetten waren alt, er lieh sie in der Bibliothek aus. „Es war einfach ein schlechtes Medium“, meint Katz. „Und die Audiobücher waren nicht gut damals, die Sprecher haben mit Absicht langweilig und monoton vorgelesen. Auch Auswahl gab es kaum.“ Aus dieser Kombination, seiner Liebe zu Hörbüchern und dem Frust über Technik und Angebot, entstand die Idee zu Audible.
Er traf viele Menschen, stellte viele Fragen. „Es gibt keine bessere Voraussetzung, ein Start-up zu gründen, als die, ein neugieriger Journalist zu sein“, sagt Katz. Er heuerte Mitarbeiter an, bekam Startkapital von einem privaten Investor aus der Computerspiel-Branche. Ein paar Monate später stieg der Wagniskapitalgeber Kleiner Perkins ein. Seine junge Firma entwickelte das schwarze Abspielgerät und fing an, Hörbücher zu verbreiten. „Als ich Jeff Bezos von der Idee erzählt habe, sagte er, dass diese Art Geschäft zehn Jahre braucht für den Durchbruch“, erzählt Katz. Bezos‘ Amazon hatte die gleichen Geldgeber. „Ich hoffe, du hast unrecht“, antwortete Katz damals. „Aber ganz unrecht hatte er im Nachhinein nicht“, sagt er heute.
Er verkaufte sein Unternehmen an Amazon – und blieb trotzdem Chef
Am Anfang wuchs Audible nur langsam. 1999 hatte die Firma gerade einmal 3000 Hörbücher im Angebot. Katz führte das Unternehmen an die Börse, um frisches Geld zu bekommen. Als die Kurse der Tech-Aktien um die Jahrtausendwende einbrachen und eine Firma nach der anderen pleite ging, wurde es auch für Audible eng. „Von den 1500 Internetunternehmen blieben nur noch 140 übrig, wir waren eines davon“, sagt Katz. „Es war eine harte Zeit.“ 2002 stieg Microsoft ein, der Aktienkurs stieg wieder, die Krise war überwunden.
Der ganz große Durchbruch aber kam erst später – mit Amazon. 2008 hatte Katz genug von dem Leben als Vorstandschef eines börsennotierten Unternehmens. Jedes Mal, wenn er in ein Projekt investieren wollte, das zwar Geld kostete, aber erst mittelfristig Geld einbringen würde, bestraften ihn die Aktionäre, erzählt er. „Nach neun Jahren als Chef einer Nasdaq-Firma hatte ich genug von Shareholder Value und Quartalsberichten.“ Also verkaufte er das Unternehmen an Amazon. Bezos hatte schon einige Jahre zuvor einen kleinen Anteil an seiner Firma gekauft. Und die Männer kannten einander seit Jahren. „Wir haben dann über unsere Werte gesprochen und festgestellt, dass es passen würde“, sagt Katz.
So wie Bezos hat Katz ein Mantra: Der Kunde geht immer vor. Und obwohl das alle Unternehmer und Firmenchefs sagen, sei es bei ihm und Bezos mehr als ein Marketingspruch. „Wir sind beide besessen vom Kundenservice.“ Katz machte sich Sorgen, dass Audible unter Amazon die Unternehmenskultur und Unabhängigkeit verlieren würde, aber Bezos versprach, das zu verhindern. Also blieb Katz Firmenchef, Amazon mischt sich bis heute ins Tagesgeschäft kaum ein und der Audible-Firmensitz blieb in New Jersey, Tausende Kilometer entfernt von Seattle, der Heimat von Amazon. Heute hat Audible mehr als 300 000 Titel im Programm. Allein in Deutschland verkauft die Firma mehr als 130 Millionen digitale Hörstunden im Jahr.
Heute gibt es fast jede Neuerscheinung auch als Hörbuch
Die Buchbranche reagierte damals zunächst unwirsch und sie ist noch immer nicht sehr begeistert von der Konkurrenz – obwohl Audible den Verlagen Millionen an Lizenzgebühren überweist. „Natürlich hat das zu Nervosität geführt, weil es ja Veränderung bedeutete“, sagt Katz. Die Branche sei eben konservativ. „Anfangs waren sie auch sehr gegen das Taschenbuch, weil richtige Bücher nun einmal in Leder gebunden zu sein haben, etwas für die Eliten.“ Katz, der gebundene Bücher durchaus mag und – wenn er ein Buch lesen will, statt es zu hören – immer noch lieber zur Papierausgabe greift als zum E-Book-Lesegerät, sieht es als Erfolg, wenn Menschen das Lesen genießen. „Ich finde, wir sollten die Technik, mit der das geschieht, nicht zur Religionsfrage machen.“
Mittlerweile ist das alles auch kein Streitpunkt mehr. Viele Verlage geben nun selbst Hörbücher heraus, und fast alle kooperieren mit Audible. „Wir sind inzwischen so groß, dass fast jedes Buch, das herauskommt, auch als Hörbuch erscheint“, sagt Katz. Das gilt vor allem in den USA. In Deutschland sei die Skepsis etwas größer, aber das ändere sich – vielleicht auch, weil es hier viele gute Vorleser gibt. Bücher einzulesen sei eine Kunst, sagt Katz. Er weiß, wovon er spricht. Auch einige seiner eigenen Bücher gibt es inzwischen als Hörbuch. Er habe zunächst versucht, sie selbst vorzulesen. „Da habe ich aber sehr schnell gemerkt, dass ich das lieber einen Profi machen lassen sollte.“
Wenn Katz über seine Leidenschaft spricht, ist er kaum zu bremsen. Sei es nicht faszinierend, schwärmt er, „dass gerade jetzt Millionen Menschen Hörbücher hören und uns Stunden ihrer Zeit schenken“? Die Zeit der Menschen sei nun einmal begrenzt. Deshalb sei es wichtig, sie möglichst effizient zu nutzen – und zum Beispiel Bücher zu hören, während man den Abwasch mache oder im Stau stehe. „Mehr Zeit zu haben ist doch eine große Sehnsucht des Menschen“, sagt Katz. „Auf eine gewisse Art und Weise schenkt Audible Zeit.“ Man kann es natürlich auch so sehen: Je beschäftigter die Menschen sind, desto besser ist das für das Unternehmen Audible – und für seinen Chef Don Katz.