Das große Jobsterben (WELT v. 26.11.2017)

Fast acht Millionen Arbeitnehmer müssen damit rechnen, dass ihre Tätigkeit bis 2025 wegfällt oder sich völlig wandelt. Und zwar nicht nur Geringqualifizierte – im Gegenteil. Doch es gibt einen Ausweg.

Die Digitalisierung wird das Leben der Deutschen in den nächsten zehn Jahren völlig umkrempeln. Während der einzelne Verbraucher sich dafür oder dagegen entscheiden kann, einen digitalen Assistenten im Haus zu haben oder ein Fitnessarmband zu tragen, haben Unternehmer und Arbeitnehmer keine solche Wahl.

Als exportorientierte Volkswirtschaft ist die Bundesrepublik fest mit der Weltwirtschaft verwoben: Sie muss den technischen Fortschritt mitmachen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten und im internationalen Vergleich zurückzufallen. Für Millionen von Arbeitnehmern bedeutet das, dass sich ihre Beschäftigung in den nächsten Jahren erheblich ändern wird. Bereits heute könnten rein technisch betrachtet vier von zehn beruflichen Tätigkeiten in Deutschland automatisiert werden.

Das Tempo der Veränderungen wird sich in der nächsten Dekade erheblich beschleunigen. Die Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG) hat jetzt ausgerechnet, dass der technische Wandel hierzulande bis zum Jahr 2025 fast acht Millionen Beschäftigte erfassen dürfte.

Das muss nicht in jedem Fall bedeuten, dass diese Jobs ganz verschwinden und die Berufstätigen arbeitslos werden. Das Berufsbild jedoch könnte sich von Grund auf wandeln. Aus einer bekannten Tätigkeit wird binnen weniger Jahre eine vollkommen andere. „Niemand kann derzeit mit Gewissheit sagen, ob am Ende der Entwicklung insgesamt mehr oder weniger Arbeitskräfte gebraucht werden als heute. Sicher ist aber, dass ein großer Teil der Beschäftigten neue Kompetenzen benötigen wird, um im Arbeitsmarkt der Zukunft gefragt zu sein“, erklärt Heinrich Rentmeister, Partner bei Boston Consulting in Berlin.

Auch Experten sind betroffen

Die WELT hatte vorab Einblick in die Studie mit dem Titel „Schöne neue Arbeitswelt 4.0? Was wir tun müssen, damit uns die Arbeit nicht ausgeht“. Aufsehen erregen dürfte diese Erkenntnis: Mehr als 60 Prozent der Betroffenen sind nicht etwa Geringqualifizierte, sondern Fachkräfte, also gut ausgebildete Arbeitnehmer. Ein weiteres Zehntel der Betroffenen sind sogar Experten und Spezialisten auf ihrem Gebiet.

Vieles hängt davon ab, wie die Digitalisierung gemanagt wird. Für die Gesellschaft hat der Einbruch von Vernetzung und künstlicher Intelligenz ins Arbeitsleben positive, aber auch negative Seiten. Mitdenkende Maschinen erleichtern die Arbeit und machen den Alltag angenehmer.

Zugleich gilt: Sollten Millionen von Menschen ihren Job verlieren, wären die Kosten enorm. Allein die soziale Versorgung von 7,7 Millionen Menschen, die ohne Erwerbstätigkeit dastehen, würde mehr als 70 Milliarden Euro pro Jahr verschlingen, und das selbst dann, wenn lediglich Ausgaben auf Hartz-IV-Niveau zugrunde gelegt werden.

Riesige Einnahmeausfälle für die Sozialversicherung

Darüber hinaus entgingen dem Staat und den Kassen Steuern und Beiträge. Die Experten von Boston Consulting beziffern die potenziellen Einnahmenausfälle in der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auf weitere 170 Milliarden, bezogen auf Lohnsteuer und Sozialabgaben.

Und das ist möglicherweise noch nicht alles. Ein weniger konkurrenzfähiges Deutschland könnte insgesamt an Wohlstand einbüßen. „Eine mögliche Abwanderung der dazugehörigen – dann automatisierten – Wertschöpfung aus Deutschland würde weitere Folgeeffekte, wie zusätzliche Steuerausfälle, nach sich ziehen“, merkt Rentmeister an.

Wer im sozialen oder kulturellen Bereich tätig ist, hat in den nächsten zehn Jahren wenig zu fürchten. Aus Sicht der Beratungsgesellschaft gibt es aber Alternativen zu dem Schreckenszenario. Selbst wenn sich eine Tätigkeit durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Vernetzung vollkommen wandelt, heißt das nicht, dass damit die Stelle im Betrieb verschwinden muss. So kann aus einem Maschinenbauer gewissermaßen ein Maschinenbetreuer werden, aus einem Ingenieur ein Big-Data-Ingenieur.

Zugleich droht Fachkräftemangel

Entscheidend ist, dass die Arbeitnehmer ihre Kenntnisse durch Weiterbildung an die gewandelte Arbeitswelt 4.0 anpassen. Eine Qualifizierungsoffensive ist auch aus anderen Gründen geboten. Denn während die Technik einerseits Millionen Jobs radikal verändert und teilweise überflüssig macht, steuert Deutschland sehenden Auges auf eine nie gekannte Knappheit von qualifiziertem Personal zu.

Dieser Fachkräftemangel wird sich im nächsten Jahrzehnt zuspitzen, weil dann die Babyboomer der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge in Rente gehen. „Es wäre verfehlt, eine Angstdebatte zu führen, die alle verunsichert“, sagt Rentmeister daher. Die Automatisierung biete große Chancen, „die Auswirkungen des demografisch bedingten Fachkräftemangels zu lindern“.

Bis 2030 könnten nach BCG-Schätzungen dem deutschen Arbeitsmarkt insgesamt rund sechs Millionen Arbeitskräfte fehlen, was einer entgangenen Wirtschaftsleistung von 500 Milliarden Euro entspräche. „Mithilfe der Automatisierung lässt sich die Arbeitsproduktivität steigern“, merken die Forscher an.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hatte den Mangel allein an Fachkräften in naturwissenschaftlich-technischen Berufen für das laufende Jahr kürzlich auf 291.000 Stellen beziffert. Für Michael Hüther, den Direktor des IW Köln liegt ein Teil der Lösung in der Zuwanderung von Hochqualifizierten aus dem Ausland.

Warum der Fachkräftemangel uns alle betrifft

15.500 Unternehmen erhielten 2016 gar keine Bewerbungen mehr. Tendenz steigend. Arbeitsplätze bleiben unbesetzt, Aufgaben unerledigt. Ausbaden müssen es die Arbeitnehmer, die noch da sind. Ein Fahren auf Verschleiß. Allerdings erkennen auch die Arbeitgeberverbände, dass die Fachkräftelücke nicht allein durch Migration geschlossen werden kann. Der Fortbildung inländischer Arbeitskräfte zu Digitalisierungsspezialisten kommt eine große Bedeutung zu.

Dafür ist jedoch ein gemeinsamer Kraftakt von Arbeitnehmern, Betrieben und Politik erforderlich. Vor allem bei Tätigkeiten mit mittlerem Qualifikationsprofil sehen Ökonomen Handlungsbedarf: „Die Halbwertszeit von Kompetenzen nimmt massiv ab“, sagt Rentmeister. In diesem Segment seien Anstrengungen vonnöten, die weit über das hinausgehen, was bisher an berufsqualifizierenden Maßnahmen üblich ist.

Fachwissen verliert an Bedeutung

Die BCG-Experten sprachen von „lebensbegleitender Weiterbildung“, die es in notwendiger Form heute noch nicht gebe. Doch die Unternehmen werden das alleine wohl nicht schaffen, weshalb auch die öffentliche Hand ihren Beitrag leisten muss. Gerade kleine Betriebe könnten überfordert sein, die Infrastruktur für die Trainings allein zur Verfügung zu stellen. Zumal es in der digitalisierten Welt oftmals um Kenntnisse geht, die das erworbene Fachwissen zum Beispiel eines Handwerksmeisters übersteigen.

„Methodische und überfachliche Kompetenzen gewinnen gegenüber Fachwissen an Bedeutung. In vielen Weiterbildungs- und Qualifzierungsprogrammen, aber auch Lehr- und Ausbildungsplänen wird das noch nicht berücksichtigt“, sagt Rentmeister. Die Herausforderungen der Arbeitswelt 4.0 seien nur zusammen zu meistern: Neben Arbeitgebern und Arbeitnehmern müssten auch Politik, Behörden und Bildungsträger ihren Beitrag leisten.

In einer separaten Studie zeigt auch das Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW, dass gerade mittelständische Betriebe das Potenzial bei Weitem noch nicht ausschöpfen. Die Forscher untersuchten, welche Rolle der Einsatz von Big Data für die Innovationsfähigkeit deutscher Betriebe spielt. Das Ergebnis: Firmen, die gezielt auf die Analyse großer Datenmengen setzen, waren um 6,7 Prozent innovativer als Firmen ohne Big-Data-Einsatz – langfristig ein beträchtlicher Wettbewerbsvorteil.

„Bei Unternehmen, die Big Data strategisch einsetzen, beobachten wir, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit Innnovationen hervorbringen und auch einen höheren Umsatz durch neue Produkte und Dienstleistungen generieren“, sagt ZEW-Forscher Steffen Viete. Voraussetzung ist aus seiner Sicht, dass die Unternehmen hinreichend in die IT-Kenntnisse ihrer Beschäftigten investieren.

Die Untersuchung, die der WELT vorab vorliegt, basiert auf einer groß angelegten Umfrage unter 2706 Betrieben des verarbeitenden Gewerbes und des Dienstleistungssektors in Deutschland. Es ist die bislang größte Studie hierzulande, die sich mit dem Thema Big Data in der Wirtschaft beschäftigt.

Keine sinnvolle Alternative zur Weiterbildung

Die Forscher von Boston Consulting haben in ihrer Untersuchung ermittelt, wie teuer die notwendige Weiterbildung wird, um die 7,7 Millionen Beschäftigten mit den nötigen Zukunftskompetenzen für die Arbeitswelt 4.0 auszustatten. Demnach ist mit einem finanziellen Aufwand von durchschnittlich zehn Milliarden Euro im Jahr zu rechnen.

„Die Ausgaben sind deutlich niedriger als die Sozialkosten, die dadurch vermeidbar werden“, betont Rentmeister. Allerdings gibt er zu, dass Geld nicht das einzige Problem ist. Für eine erfolgreiche Qualifizierungsoffensive müsse auch die Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden.

Die Doktorandin der Technischen Universität Chemnitz, Kristin Hockauf, untersucht am 15.04.2011 im Labor der Professur Oberflächentechnik und Funktionswerkstoffe im Rahmen ihrer Arbeit das Ermüdungs- und Rissfortschrittsverhalten ultrafeinkörniger Aluminiumlegierungen an einem servohydraulischen Prüfsystem. Mit einer Kompetenzschule unterstützt die Chemnitzer Universität ihre Doktoranden seit März noch intensiver als bisher. Ziel ist es vor allem die hochqualifizierten Fachkräfte auf eine leitende Tätigkeit in Wirtschaft und Wissenschaft vorzubereiten und zugleich die Attraktivität einer Promotion an der TU Chemnitz zu erhöhen. Als Promotionsstudenten der TU Chemnitz sind derzeit 460 Promovierende, darunter ein Drittel Frauen eingeschrieben. Die meisten promovieren in den Ingenieur- und Naturwissenschaften.
Dass Deutschland derzeit keine entscheidungsfähige Regierung hat, ist da nicht förderlich. „Die Bundesrepublik leidet unter einem Mangel an strukturellen Reformen und braucht dringend Investitionen in Digitalisierung und Bildung“, sagt Carsten Brzeski, Chefökonom der ING DiBa. Die deutsche Politik sollte daher nicht zu viel Zeit vergeuden, will sie die ökonomische Zukunft nicht aufs Spiel setzen.

Eine sinnvolle Alternative zur Weiterbildung scheint es nicht zu geben. „Auch wenn nur in wenigen Fällen der gesamte Beruf vollständig automatisiert wird, dürften schon in den nächsten drei Jahren 1,8 Millionen Beschäftigte betroffen sein.“ Rein theoretisch könnte die Arbeitslosigkeit dadurch um 60 Prozent steigen, was die Größe der Herausforderung zeigt.

Der technische Fortschritt schreitet unaufhaltsam voran. Am stärksten sind die Auswirkungen auf die Fertigung. Ohne zusätzliches Wachstum wird in dem Bereich wohl schon 2025 jede dritte heutige Stelle von Robotern und Künstlicher Intelligenz übernommen. Stark ist der Effekt der Digitalisierung aber auch in Verwaltung, Verkehr, Handel und Logistik.