Selbstorganisation ist vor allem eine Frage der Haltung

  • Agile Managementmethoden wie Scrum oder Kanban erleichtern den Start
  • Die Führungsrolle wird in selbstorganisierten Unternehmen nicht abgeschafft, sondern neu definiert
  • Durchhaltevermögen und Eindeutigkeit sind zwei Dinge, die bei der Einführung von Selbstorganisation essentiell sind

Immer wieder ist im politischen Diskurs die Rede vom „mündigen Bürger“. Wie wäre es mal mit dem „mündigen Mitarbeiter“? Arbeitnehmer, die selbst entscheiden, wie sie sich in Teams organisieren oder welche Projekte am erfolgversprechendsten sind, um den Umsatz zu pushen. Oder wie es Steve Jobs sagte: „It doesn’t make sense to hire smart people and then tell them what to do. We hire smart people so they can tell us what to do.” Utopisch? Okay, dann dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn immer mehr Arbeitnehmer sich von ihrer Arbeit, die ja immerhin den wesentlichen Teil des Tages ausfüllt, entfremden, das mittlere Management in den Burnout läuft, weil sie mit den gestiegenen Anforderungen nicht jedes Details kontrollieren kann, und Unternehmen insgesamt an Tempo und Schlagkraft verlieren. Wenn die Parteien längst erkannt haben, dass Bürger mehr Verantwortung tragen müssen, etwa um ihre Altersvorsorge zu sichern, müsste die Wirtschaft eine solche Entwicklung nicht längst antizipiert haben? Doch tatsächlich halten viele noch an ihren alten Wasserfall-Methoden fest, die in der beschleunigten digitalen Wirtschaft so zeitgemäß wirken wie ein Eierlikör als Absacker in der Szene-Kneipe. Aus meiner Sicht kann es deshalb nur eine Lösung geben: deutlich mehr Verantwortung für die Mitarbeiter. Der Schlüssel dazu ist selbstorganisiertes Arbeiten.

Agile Managementmethoden erleichtern den Start

Bei der Einführung von Selbstorganisation gibt es keine vordefinierten Schablonen. Helfen kann es aber, agile Management-Prozesse wie Scrum oder Kanban zu nutzen. Dadurch erhalten alle Beteiligten also einen Rahmen mit klar vorgeschriebenen Regeln und Abläufen. Sie werden also „an die Hand genommen“ und können innerhalb des Rahmens erlernen, wie sich Selbstorganisation umsetzen lässt. Ein weiterer Vorteil ist, dass Führungskräfte mit Hilfe von visuellen Managementmitteln leichter aufzeigen können, wo Probleme bestehen, ohne subjektiv und wertend zu sein. Das bedeutet: Die Struktur (sprich die Rahmenbedingungen) ist eine wichtige Grundkomponente bei der Einführung von Selbstorganisation. Sie ist wichtig, um dem Team Orientierung zu geben. Dafür gliedert man seine Organisation in einzelne „Zellen“. Diesen Zellen übergibt man Business-Verantwortung und lässt sie autark agieren. Damit die Selbstorganisation dieser Zellen letztendlich gelingt, ist es notwendig, alle benötigten Strukturen wie beispielsweise die klare Definition von Grenzen, Verantwortungsbereichen, Rollen, Funktionen und Regeln einzuführen.

Selbstorganisation als Frage der Haltung

Selbstorganisation funktioniert zwar mittels Frameworks wie Scrum oder Kanban, vor allem ist es aber eine Frage der Haltung. Das betrifft auch die Führungskräfte, deren Rolle und Aufgaben sich grundlegend ändern werden. Aus diesem Grund müssen sich die Entscheidungsträger in jeder Organisation zu allererst die Frage stellen: Besitze ich wirklich den Willen, um dieses Experiment zu wagen? Bevor Sie voreilig „Ja!“ schreien. Zwei Dinge sind essentiell – erstens: ohne eine Menge Durchhaltevermögen geht es nicht. Weil: Man muss Abschied nehmen von alten Denk- und Management-Methoden, man wird Rückschläge einstecken müssen und am Anfang jede Menge Gegenwehr – vor allem aus dem mittleren Management selbst – zu spüren bekommen. Vergleichbar ist die Einführung von Selbstorganisation mit dem Lernen einer Kampfart wie Aikido – es dauert bis man den schwarzen Gürtel hat. Zunächst lernt man es richtig zu tun (Methode), erst dann begreift man die Philosophie. Und zweitens: Es braucht absolute Eindeutigkeit – eine Eigenschaft die viele Führungskräfte leider gegen diplomatische Floskelhaftigkeit eingetauscht haben. Doch Eindeutigkeit ist wichtig, weil Führungskräfte hier die Rahmenbedingungen (Entwicklungszyklen von Produkten, Umsatzziele, Renditeerwartungen etc.) klar abstecken und kommunizieren müssen. Wer hier undeutlich in der Richtungsanweisung ist, muss operativ, also durch Befehl und Kontrolle, ständig nachsteuern. Das ist aber nicht der Sinn und Zweck von Selbstorganisation. Vielmehr sollte das System – in der Regel das Team – dazu befähigt werden selbst nachzusteuern.

Neudefinition der Führungsrolle

Die Einführung von Selbstorganisation wird nicht immer reibungslos und ohne Schwierigkeiten ablaufen. Selbstorganisation bedeutet in letzter Konsequenz, dass sich die Kollegen in den Organisationen selbst managen. Für Führungskräfte ergibt sich daraus in der Praxis häufig ein schwieriger Spagat. Einerseits sind sie eine Art Host – also wie der Gastgeber einer Party: Sie schaffen die Rahmenbedingungen, geben Motto bzw. eben die Vision vor. Anschließend laden sie die Gäste ein. Da die Annahme einer Einladung in den meisten Fällen freiwillig ist, ist es die Aufgabe eines Hosts dafür zu sorgen, dass sich alle Gäste an die Bedingungen der Einladung halten. Andererseits sind sie aber auch gleichzeitig direkt in das Team integriert und dadurch näher an der eigentlichen Basis. So bekommen sie direkt mit, wie agiles Arbeiten und Selbstorganisation wirklich umgesetzt werden. Diese beiden komplett unterschiedlichen Rollen zu akzeptieren und dann auch zu leben, fällt vielen klassischen Führungskräften schwer. Und auch wenn manchmal der gegenteilige Eindruck vermittelt wird: Selbstorganisation als Form der Zusammenarbeit macht Leadership bei weitem nicht überflüssig. Die Rolle der Führungskraft wird nicht abgeschafft, sondern komplett neu definiert.

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