Interview
Zu glauben, 60-jährige Vorstände fingen plötzlich an, agil zu arbeiten, findet Wolfgang Jenewein naiv. Der St. Galler Leadership-Professor erklärt, mit welcher Einstellung Manager den neuen Herausforderungen begegnen sollten.
Mit Wolfgang Jenewein sprach Christina Kestel
Agilität ist derzeit das Buzzword schlechthin. Aber erst ganz wenige deutsche Unternehmen wie SAP oder Bosch haben agiles Arbeiten im ganzen Unternehmen ausgerollt. Steckt die agile Revolution noch in den Kinderschuhen?
Jenewein: Bis heute wird in vielen Organisationen Agilität eher als Pilotprojekt für gewisse Themen angesehen. Solche Leuchtturmprojekte gibt es zum Beispiel in der Automobilindustrie – etwa bei VW, BMW, Daimler -, aber man kann nicht sagen, dass es auf breiter Ebene stattfindet. Es ist auch nicht gerade einfach, ein großes, gut funktionierendes System wie einen Konzern umzustellen. Dabei stellt sich ebenso die Frage, ob es sinnvoll ist, alles mit Gewalt auf agil zu trimmen. Für Produktion, Finanzen oder Einkauf ist es das sicher nicht. Und am Ende steht die Frage, ob das auf lange Sicht die besseren Ergebnisse liefert.
Für viele Führungskräfte ist die agile Arbeitsweise völlig neu. Statt um Command & Control geht es nun ums Experimentieren, Beobachten und Lernen. Inwieweit verlangt das nach einem neuen Führungstypus?
Jenewein: Es braucht eine andere Art von Führung und Haltung. Es ist auch nicht jeder dafür geeignet. Wer 30 oder mehr Jahre lang die Hierarchien nach oben geklettert ist, tut sich mit flexiblen Umgangsformen schwer. In vielen Unternehmen herrscht immer noch das Statusdenken vor, und viele Chefs führen weiter über Kontrolle und Macht. Sie werden nicht von heute auf morgen auf agil umschwenken können.
Sie sprachen auch von einer anderen Haltung, was meinen Sie damit?
Jenewein: Als Chef muss ich demütig sein, mich nicht mehr so wichtig nehmen, mehr zuhören, mehr Leute integrieren und involvieren. Das ist die neue Haltung. Weg vom Herrschaftswissen und der Projekt- und Planüberwachung hin zum involvierenden, koordinierenden demütigen Miteinander. Ich veranschauliche das in meinen Seminaren immer mit einer Metapher: Auf der einen Seite steht ein weiblicher oder männlicher General, der die Pläne steuert und dafür sorgt, dass die Truppen zur richtigen Zeit das Richtige tun. Das war lange Jahrzehnte die effizienteste Form von Führung. Nun gibt es aber jeden Tag eine Innovation, eine neue Möglichkeit, und man muss versuchen, diese Effekte zu nutzen. Und so stehen auf der anderen Seite nun Tarzan und Jane, die zwar ein Ziel haben – sie wollen durch den Dschungel -, aber sie haben keinen Plan für den Prozess. Sie schwingen sich nur mit Körperspannung und Agilität von Liane zu Liane und hoffen, dass wieder die nächste Liane kommt. Wenn nicht, machen sie einen Stopp und reflektieren, was bis jetzt gut oder schlecht gelaufen ist, bis sie sich auf die nächste Episode einlassen. Das ist die Haltung, die es jetzt braucht.
Welche konkreten Führungsaufgaben entstehen daraus?
Jenewein: Die wichtigsten Kompetenzen von Managern in agilen Teams sind inspirieren, strukturieren und moderieren. Das ist nicht unbedingt das, was in der klassischen Hierarchie gefragt ist. Der Unterschied verdeutlicht sich am Beispiel des Zuhörens. Die Wissenschaft unterscheidet fünf Stufen. Erstens: nicht zuhören; zweitens: zuhören, um selbst zu sprechen; und drittens: zuhören, um zu widersprechen. Die ersten drei Formen sind in klassischen Organisationen sehr ausgeprägt und wenig hilfreich bei agilen Methoden. Dafür sind viertens: das empathische Zuhören (um den anderen zu verstehen) nötig; und fünftens: zuhören, um dem anderen zu helfen, sich besser zu verstehen. Im Scrum gibt es immer mal die Situation, dass einer wiederholt denselben Fehler macht. Das kann man hundertmal anmerken, er kann es einfach nicht annehmen. Stattdessen muss man ihm so geschickt Fragen stellen, dass er seine Muster und Fehler selbst entdeckt und reparieren kann. Dafür ist eine große Empathie oder Coachingfähigkeit nötig. Diese Kompetenz ist es, die gute von großartigen Teams unterscheidet.