Keine Angst! (SZ v. 30.12.2017)

Da wäre zunächst die Geschichte über den Mais und den Mullah. Ein Mullah steht vor seinem Haus in London und verstreut Maiskörner. Ein Engländer kommt vorbei und fragt ihn, warum er das tut. „Das hält die Tiger fern“, erwidert der Mullah. Aber hier gebe es doch gar keine Tiger, erwidert der Engländer. Darauf der Mullah: „Sehen Sie, es funktioniert.“ Der Mais als Schutz gegen die Tiger. Gegen Tiger in England. Wie lächerlich! Wir glucksen laut über die alte Parabel aus einer orientalischen Geschichtensammlung und fragen uns dann, wie viel Mais wir wohl im Lauf unseres Lebens bereits verstreut haben. Wie sehr unser Handeln bestimmt wird von Ängsten, die uns gar nicht plagen müssten.

Wir alle kennen dieses ungute Gefühl, wenn die Gedanken im Kopf kreisen und unser Körper schaudert, das Herz rast und der Magen verkrampft. Angst! Das Unbehagen in der Dunkelheit, das Erschrecken vor einem vorbeihuschenden Schatten, die Sorge vor dem Morgen und Übermorgen, die Panik vor der Prüfung, das Lampenfieber vor dem Auftritt. Angst!

Was für eine lästige Emotion, sie lähmt uns, wenn wir wach sind, sie hält uns wach, wenn wir schlafen wollen. Was unseren frühen Vorfahren in gefährlichen Situationen das Leben rettete, macht uns heute das Leben schwer. Die Furcht vor der Schlange, vor der Spinne, vor dem Löwen in der Savanne. Ein Warnsignal, das unsere frühen Verwandten nie im Stich ließ und sie auch bei der fünften Begegnung mit einem Löwen wieder auf einen Baum klettern ließ.

Die Patientin war derart furchtlos, dass sie nach Giftspinnen und Schlangen griff. Keine gute Idee
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Aber heute? Was nützt es uns, sich zu ängstigen? Wie herrlich wäre es, diesem miesen Gefühl einfach davonzulaufen oder, besser noch, es abstreifen zu können wie eine Schlange ihre alte Haut. Keine Angst!

Doch wollen wir das wirklich? In diesen vermeintlichen Genuss kam eine Patientin, über die Forscher der Universität Iowa vor ein paar Jahren berichteten. Die 44 Jahre alte Frau kannte keine Furcht. Sie litt an einem seltenen Gendefekt, als Folge waren ihre Mandelkerne im Lauf der Jahre untergegangen, die Angstzentren im Gehirn. Daher versuchte sie, in einer Zoohandlung ohne Scheu, eine Tarantel anzufassen. Auch nach den besonders gefährlichen Schlangen wollte sie greifen. In ihrem eigenen, unsicheren Wohnviertel ging sie oft und gern auf besonders zwielichtige Gestalten zu. Obwohl die schweren Jungs sie schon mit Messern bedroht hatten, sogar mit Pistolen, einmal wurde sie fast umgebracht. Eine Prise Angst hie und da hätte der Patientin ein sichereres Leben beschert.

Besser also, wir rudern zurück in unseren Wünschen, arrangieren uns mit der Angst, fügen uns ihrem dominanten Gehabe wie einer schlecht gelaunten Diva, die uns unsere Miete bezahlt. Oder nicht? Wir könnten immerhin versuchen, unsere Angst zu verringern. Wir können versuchen, uns nur vor dem zu fürchten, was wirklich bedrohlich ist. Bewerten wir stattdessen eine Gefahr allein nach unserem Gefühl und lassen die Kognition außen vor, dann leben wir alle in der postfaktischen Pöbelwelt von Donald Trump.

Fakten also. Vernunft. Ein Beispiel: Im Jahr 2016 starben 3206 Menschen in Deutschland bei Verkehrsunfällen, weltweit starben 140 Menschen durch einen Flugzeugabsturz. Wir haben also ein höheres Risiko, hinter dem Steuer unseres Autos auf dem Weg zum Flughafen zu sterben als an Bord einer Passagiermaschine, rechnet der Risikoforscher Gerd Gigerenzer gern vor. Auch in Sachen Gesundheit fürchten manche die Inhaltsstoffe von Zimtsternen mehr als das, was in unserer westlichen Welt vor allem die Lebenszeit verkürzt: zu viel Alkohol und Rauchen, falsche Ernährung und zu wenig Bewegung. Diese Statistiken immer und überall zu wiederholen hilft gegen die Angst. Zumindest ein bisschen.

Allerdings sehen unsere Ängste heute oft anders aus als früher. Nicht nur, dass eben kein Tiger vor unserer Haustür lauert, den wir mit Maiskörnern vertreiben könnten. Wir fürchten uns vor dem Statusverlust, dem verlorenen Ansehen: Die Managerin etwa fürchtet, ihren hochdotierten Job zu verlieren, der junge Kollege, bei seinem Vortrag in großer Runde bloßgestellt zu werden. Oder das ihm aufgetragene Projekt nicht erfolgreich zu beenden. Mediziner raten sorgengeplagten Patienten dann gern, sich konkret vorzustellen, was denn schlimmstenfalls passieren könnte. Wenn der Job futsch oder das Projekt gescheitert ist. Im Konkreten schrumpfen die Ängste schnell. Der Jobverlust könnte neue Berufsperspektiven eröffnen, das gescheiterte Projekt in Wahrheit gar nicht so relevant sein.

Das Spiel mit der Angst ist ein Spiel mit der Macht
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Leider lassen sich jedoch nicht alle Ängste konkretisieren, die Angst vor dem Klimawandel bleibt meist diffus, auch die vor einer neuen Finanzkrise. Und manche Ängste wachsen wiederum umso mehr, je weniger wir eine angebliche Gefahr konkret erleben können. Wenn wir sie nur in ihrer bedrohlichen Ganzheit erahnen. Die Angst vor Flüchtlingen zum Beispiel. Sie ist am größten dort, wo es die wenigsten Flüchtlinge gibt. Wie Nebelschwaden trübt Angst sehr oft den Blick auf das Leben und auf die vermeintlichen Bedrohungen in unserem Alltag. Da hilft wohl nur, sich diesen Ängsten konkret auszusetzen, wie der Phobiker der Spinne. Es lohnt sich also, Flüchtlingen zu begegnen, statt sie zu meiden, im Kampf gegen die Angst.

Andernfalls können sich Ängste ähnlich wie ein Grippevirus ausbreiten, das bestätigten Mathematiker des University College in London vor Kurzem wieder. Angst ist ansteckend. Zumindest die Angst vor Verbrechen springt von einem Menschen zum nächsten, und schon die Nachrichten einiger weniger Verbrechen in einer Bevölkerungsgruppe reichen aus, um das Gefühl der Bedrohung enorm zu steigern.

Dagegen wehrten sich allerdings die Franzosen, nach dem Terror in Paris im November 2015. Sie riefen den schönen Spruch: „Même pas peur!“, sie schrieben ihn auf Plakate, T-Shirts und Hauswände. Ätsch, wir haben keine Angst, wir lassen uns keine Angst machen! Ein Spruch, den sich sonst französische Kinder untereinander im Spiel zurufen, um sich gegenseitig ihren Mut zu beweisen. Er bedeutete zu jener Zeit aber, dass die Pariser trotz Terrorismus keine Diskotheken oder Konzerthallen meiden, weiter in den Cafés an der Place de la République sitzen werden.

„Das Einzige, was wir wirklich fürchten müssen, ist die Furcht selbst.“
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Mut gegen Angst. Das ist ein starkes Mittel, solange es nicht dazu führt, dass Ängste verschwiegen werden. Dann nämlich blähen sie sich insgeheim auf wie ein Heißluftballon. Menschen müssen über ihre Furcht reden dürfen, sie im Idealfall im Gespräch mit anderen kleinreden, bis dem Ballon alle Luft entweicht. Manchmal hilft es auch, Ängste auf einem Papier niederschreiben und das Papier dann zur Seite zu legen.

Warum das wichtig ist? Weil Angst lähmt, weil Angst verstummen lässt. Das Einzige, was wir wirklich fürchten müssen, ist die Furcht selbst, sagte schon der frühere US-Präsident Franklin D. Roosevelt in seiner Antrittsrede. Denn Furcht untergräbt vieles von dem, was in unserem Leben wirklich wichtig ist und hindert uns, im Leben voranzukommen.

Was also tun? Wir müssen uns klarmachen, dass in unserem Kopf im Grunde zwei kleine Männlein sitzen. Das eine jagt uns Angst ein. Angst vor Krebs, Angst vor Terror, Angst vor der Niederlage. Das zweite Männlein dagegen versucht mit ruhiger Stimme, uns unser Vertrauen in uns und die Welt zurückzugeben. Und wir haben die quälende Wahl, tagaus, tagein, wem der beiden Männlein wir länger zuhören.

Zum Beispiel, bevor wir im Münchner Stadtpark joggen gehen. Tolle Geräte zum vermeintlichen Schutz gibt es inzwischen zu kaufen, mit Alarmton und Funksignal. Für den Fall, dass ein Unbekannter aus dem Gebüsch springt. Doch statt uns zu beruhigen, wird uns das Armband vor jeder Laufrunde immer aufs Neue daran erinnern, in was für eine vermeintliche Gefahr wir uns erneut begeben. Viel mehr hilft es da, das Armband in den Müll zu werfen und sich daran zu erinnern, dass sexueller Missbrauch fast nie von einem Unbekannten im Wald ausgeht.

Doch lassen wir uns nicht täuschen. Angst ist ein enorm mächtiges Gefühl. Es zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten, prägt den Blick auf die Welt. Der Soziologe Heinz Bude spricht sogar von einer „Gesellschaft der Angst“. Vor Krankheit, vor Terroranschlägen, vor Naturkatastrophen fürchten sich Menschen in Deutschland besonders, so ergab die diesjährige Umfrage der R+V-Versicherung.

Angst ist ein Verkaufsschlager. Sie kurbelt Kampagnen an, sie befeuert politische Haltungen. Das Spiel mit der Angst ist immer ein Spiel mit der Macht. Und jenseits der Fakten wirkt vor allem eines gegen die Angst: Vertrauen. Vertrauen in die Gesellschaft, in das eigene Urteil, auch beim Blick auf den dunkelhäutigen Mann, der mich spät abends in der S-Bahn anspricht. Nein, er will mir gar nichts tun, er will sich einfach nur nett mit mir unterhalten, weil er merkt, dass ich seine Sprache spreche. Weil es in seiner Kultur üblich ist, sich unterwegs mit Fremden zu unterhalten. Entspannt und furchtlos. Was für ein Vergnügen.

Vertrauen macht sicher und frei, das hatte auch der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg nach den Anschlägen des Massenmörders Anders Breivik auf die Jugendlichen im Zeltlager der Insel Utøya vor sechs Jahren erkannt. Er sprach in seiner Rede nicht von mehr Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung als Mittel gegen die Angst. Er sagte stattdessen, dass sie auf die Anschläge mit noch mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit reagieren würden. Vertrauen als Waffe gegen die Angst.

Denn keine Angst zu haben bedeutet, frei zu sein. Umgekehrt heißt es, dass wir unsere Freiheit verlieren, wenn wir uns ständig fürchten. Es hilft, darauf zu vertrauen, dass zwar nicht alles gut werden wird, aber sehr viel. In unserer Gesellschaft, die ohnehin sicherer ist als jemals zuvor. Und wenn wir uns trotzdem noch Sorgen machen, können wir heimlich ein paar Maiskörner streuen. Aus dem Rest machen wir dann Popcorn.

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