Zug, spitze! (SZ v. 17.12.2017)

Wie ich lernte, die Bahn zu lieben, ohne dabei meinen Humor zu verlieren: Eine nicht ganz pannenfreie Reise durch das Land der Besserwisser.

Der nächste Zug kommt ganz sicher – nur wann? Bahn-Fans kennen diese Situation, wissen aber auch: Stau ist noch schlimmer.
Es ist schwer, die Bahn zu lieben. Neulich erst, ich saß im letzten Zug von Berlin nach München, die alte Strecke war es noch, vorbei an Jena Paradies, durchs Saaletal und den Thüringer Wald; es war schon um Mitternacht herum, und der ICE stand in Nürnberg. Stand da und blieb stehen, und als im Großraumabteil das allgemeine Tuscheln begann, kam die Durchsage: Der Lokführer fehlt. Der bis Nürnberg gefahren war, hatte Feierabend, der nach München fahren sollte, steckte in einem Zug mit zwei Stunden Verspätung.

Fatalistischer Humor machte die Runde: Ob nicht einer vom Servicepersonal einspringen könne? Oder ein technisch begabter Passagier, wo man sich auf Schienen doch praktisch nicht verfahren könne? Die Durstigen fanden den letzten offenen Kiosk, die Hungrigen hatten Pech; die Glücklichen hatten daheim jemanden, der noch wach war oder wach wurde und die Abholung versprach, die anderen knobelten Taxi-Fahrgemeinschaften aus. Dann war der Lokführer da, und um halb drei in der Früh stolperte eine Hundertschaft sehr müder Reisender durch den Münchner Hauptbahnhof. Einer murmelte durchs Rattern der Rollkoffer: typisch Bahn.

Typisch Bahn. Seit 30 Jahren bin ich Dauerkunde dieses eigentümlichen Unternehmens, das damals noch eine echte Staatsbahn, genauer: zwei Staatsbahnen war. Ich bin in den Neunzigern mit den ersten ICEs von Hamburg nach Frankfurt gependelt und mit den letzten Taiga-Trommeln aus russischer Produktion mit pfeifendem Dieselmotor durchs gerade wiedervereinte Land geruckelt, Plasteduft in der Nase. Seit zehn Jahren pendle ich zwischen München und Berlin und fahre auch beruflich zu fast allen Terminen mit der Bahn. Ich weiß nicht, für wie viele Erdumrundungen die Kilometer reichen würden, die ich gefahren bin, und ob es noch Monate oder schon Jahre sind, die ich alles in allem im Waggon gelebt habe.

Reisen bedeutet immer, sich dem Unsicheren und Unwägbaren auszusetzen

Und ja: Ich habe so ziemlich alles erlebt, was man an Schlechtem mit der Bahn erleben kann. Ich habe Termine verpasst, weil Züge auf freier Strecke verreckten, und mir an eiskalten Bahnsteigen Erkältungen geholt. Ich habe verzweifelte Rentner erlebt, die reservierte Sitze freigeben sollten, die nicht als reservierte Sitze gekennzeichnet waren, und entnervte Mütter mit weinenden Kindern im überfüllten Zug, weil wieder ein Zugteil ausgefallen war. Ich habe Schaffner mit der Menschenliebe eines Folterknechts kennengelernt, Bedienungen, für die hungrige Menschen lästige Bettler sind, und kindlich unwissende Infopoint-Bedienstete. Ich habe mich in versifften Toiletten geekelt und über Preiserhöhungen geärgert, habe bitter gelacht über Schnäppchenangebote, die schneller weg waren als Lockangebote im Schlussverkauf oder innerhalb von drei Tagen eingelöst werden mussten: Ich fürchte die Bahn, auch wenn sie Geschenke bringt.

Das ist die eine Seite. Die andere sieht so aus: Reisen bedeutet immer, sich dem Unsicheren und Unwägbaren auszusetzen. Es gibt Sommergewitter, Herbst- und Schneestürme, Tiere im Gleis und Menschen, die sich in suizidaler Absicht vor Züge werfen; fast 34 000 Kilometer Schienennetz sind nie lückenlos zu kontrollieren. Wenn ich das bedenke, bin ich ganz schön oft pünktlich angekommen und fast immer weniger angestrengt als nach einer Autofahrt. Ich habe wesentlich mehr hilfsbereite Schaffnerinnen und Schaffner erlebt als Stoffel; Frauen und Männer, die ruhig und freundlich blieben, wenn Fahrgäste sie anpöbelten, obwohl sie die falsche Fahrkarte gekauft hatten.

Ich habe in der Bahn meist schlafen, lesen, arbeiten können, wie es mir gefiel; die Fahrt bedeutete selten vertane Zeit. Nur erinnert man sich selten an die Tage, an denen alles glatt lief. Wohl aber an jene mit den irren Begegnungen. Da war der Mann, dem das Raucherbein abgesägt werden musste, und der während der Fahrt zwei Dutzend Telefonate gleichen Inhalts führte: „Also, ich fahre nach Berlin ins Krankenhaus, weil da mein Bein…“ Oder an die Lebensgeschichten der Bekanntschaften auf Zeit, die man nirgendwo sonst angesprochen hätte.

Jede Minute Verspätung zieht eine Verwünschungsorgie nach sich

Kurz: Das meiste klappt irgendwie bei der Bahn, einiges aber läuft gründlich schief. Dass nun ausgerechnet die Prestigestrecke München – Berlin zur Pannenstrecke wird, passt ins Bild: Mit Pauken und Trompeten wird nach einem Vierteljahrhundert Bauzeit eine neue Ära angekündigt. Und dann bleibt schon der Zug mit den Ehrengästen stecken, die automatische Zugsteuerung macht, was sie will, nur die Preiserhöhung hat reibungslos geklappt; derweil verrotten auf den Nebenstrecken Gleise und Waggons. Das ist schon sehr peinlich und ärgerlich, und dass in Italien die Zeitungen voll waren von der ICE-Panne im Land der Besserwisser und Bessermacher, ist nur gerecht. Doch die abgrundtiefe Häme und die maßlose Wut, die nun die Bahn treffen, erklären das alles nicht. Sie erklären nicht diese Lust an der Beschimpfung: Jede Minute Verspätung zieht eine Verwünschungsorgie nach sich, als hätte man zugleich Kinderarbeit bei den Lokführern und Tierquälerei im Bordbistro entdeckt.

„Armes Deutschland, es geht den Bach runter“, steht in einem der abertausend Kommentare zum misslungenen Start ins neue ICE-Zeitalter. Das trifft den Kern der Wut besser, als dem Kommentator wahrscheinlich bewusst war. In der Bahn steht nicht einfach ein großes Unternehmen mit den Absurditäten eines großen Unternehmens am Pranger. Der Zorn gilt einer Institution, er richtet sich gegen ein als anonym wahrgenommenes System, gegen das man machtlos ist, das vom Guten redet und das Böse tut, das in aller Arroganz die Hebel in der Hand hält.

Der Shitstorm, der die Bahn gerade trifft, ist Teil des gewachsenen Institutionen- und Staatsmisstrauens; aller Privatisierung zum Trotz wird die Bahn als Teil des Staates gesehen. Dass der einstige Bahn-Chef Hartmut Mehdorn dem Klischee des menschenfernen Politikers sehr nahe kam, hat das noch verstärkt. Ein verstopftes Klo im ICE ist so gesehen nicht nur ein verstopftes Klo. Es ist Teil des allgemeinen Staatsversagens.

Bald ist es zehn Jahre her, dass die Journalisten Lutz Schumacher und Mark Spörrle ihr Buch „Senk ju vor träwelling“ herausbrachten, einen satirischen Ratgeber, „wie Sie mit der Bahn fahren und trotzdem ankommen“. Die Autoren machten sich über das Denglisch der Zugbegleiter lustig, über doofe Schaffner und bescheuerte Mitreisende, vor allem aber über die Bahn an sich, das hilflose Modernitätspathos im Großen und die Ignoranz im Alltag, über das Ausgeliefertsein der Reisenden wie einst im Zeitalter der Postkutschen – immerhin minus Raubüberfall. Das Buch wurde ein Bestseller.

Endlich sagte einer den Arroganzlingen von der Bahn: Ihr seid doof und merkt es nicht einmal. „Senk ju vor träwelling“ prägt bis heute die Erzählung von der unfähigen Bahn. Das Unternehmen hat seitdem jede Menge Fortsetzungsgeschichten geliefert, die Institutionenfeindschaft hat sich potenziert, und so hat sich auch diese Haltung radikalisiert – bis hin zu den Angriffen, denen Bahnmitarbeiter ausgesetzt sind. Die Bahn bietet die perfekte Projektionsfläche gegen „die da oben“. Man muss nicht ausländerfeindlich werden, um mitzumachen. Es gibt kaum ein Thema, das Linke und Rechte, Arme und Reiche, Gläubige und Nichtgläubige aller Bekenntnisse schöner vereint.

Dabei könnte ich stundenlang die absurdesten und empörendsten Geschichten vom Fliegen und übers Autofahren erzählen, obwohl ich gar nicht so oft fliege oder Auto fahre. Wenige Wochen vor der desaströsen Bahnfahrt mit dem fehlenden Lokführer bin ich nach Berlin geflogen. Der Flug war um eine Viertelstunde vorverlegt, ich rannte zum Gate, die Angst im Nacken. Dort die Anzeige: eine Stunde Verspätung. In der Maschine weitereres Warten – auf Sitzen mit Schulbusqualität. Der Start gegen Mitternacht, in der Luft die Durchsage: Es geht nicht nach Tegel, es geht nach Schönefeld; die Busse in die Stadt sind bestellt. Zehn Minuten später: Es gibt keine Busse. Die Landung war auf dem neuen BER-Flughafen, fernab des Terminals; Ankunft in Berlin: 2.30 Uhr.

Flugzeug und Auto sind nicht dieser Häme ausgesetzt

Das ist auch eine schöne Geschichte – aber es entsteht kein Narrativ aus ihr, keine Überhöhung oder Verallgemeinerung; nicht einmal in der Endzeit der Pleite-Fluglinie Air Berlin, aus der diese Geschichte stammt, war das so. Beim Fliegen dämpft immer noch die Ehrfurcht die Häme. Trotz aller Billigfliegerei kann sich der Passagier als herausgehobener Reisender fühlen, als Teil einer Elite, die der ferne Hauch des Jetsets umweht. Zudem bleibt dem Fluggast immer ein letzter Rest von Todesangst. Wer will in die Erleichterung nach der Landung hinein anmerken, dass man gerade 25 Minuten über der Stadt gekreist ist?

Es ersteht auch keine allgemeine Zorneserzählung aus den vielen Hundert Stunden, die ich im Stau gestanden habe, aus den Horrorfahrten bei Schneematsch, dem Beinahe-Unfall. Keiner sagt dann: typisch deutsche Autobahn. Der Fahrer wird im Gegenteil zum einsamen Helden, der sich durch Wetter und Gefahr schlägt und seine Lieben sicher ans Ziel bringt, sogar um halb drei Uhr in der Früh. Das Auto hat nie Verspätung, es gab halt einen blöden Stau. Es ist als Symbol der individuellen Freiheit sakrosankt, auch deshalb gibt es mehr Road- als Railmovies. Wer Auto fährt, individualisiert dann auch das Risiko: Wer zu spät kommt, ist selber schuld. Wer einen Unfall baut, erst recht.

Ganz schön ungerecht gegenüber der Bahn ist das. Und diese Ungerechtigkeit ist auch die Folge einer Politik, die seit Jahrzehnten die Bahn als ungeliebtes Stiefkind der Verkehrspolitik ansieht. Die Bundesrepublik hat ziemlich viel in Straßen und Flughäfen investiert und ziemlich wenig in Gleise und Züge; 2016 waren es 64 Euro pro Einwohner, in Österreich 198 Euro, in der Schweiz gar umgerechnet 378 Euro. Müssten die Autofahrer in gleicher Weise zum Unterhalt der Straßen beitragen wie indirekt die Bahnkunden zum Erhalt der Gleise, wäre die Fahrt im Auto nicht mehr billiger als mit der Bahn; würden Bund und Länder konsequent in das sicherste und ökologisch sinnvollste Verkehrsmittel investieren, wären Angebot und Ruf bald besser als heute. In Japan sieht man, wie die Qualität des Bahnsystems und der Stolz auf die Shinkansen-Züge zusammenhängen; Prestige ist auch eine Frage des Investments.

Vielleicht ist auch deshalb der Zorn auf die Bahn so groß, weil das Interesse an der Bahn größer geworden ist. Für viele Menschen ist eine Autofahrt durch den Schneematsch nicht mehr eine Heldentat der Gegenwart, und im Angesicht des Diesel-Skandals und des BER-Desasters nimmt auch die Zahl der Politiker zu, die eine Verkehrswende für nötig halten. Diese neue Aufmerksamkeit offenbart aber erst recht, wie groß bei der Bahn die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist. Möglicherweise bleibt mir dieser Zorn auch deshalb fremd, weil mir nach 30 Jahren Bahnfahren diese Lücke vertraut ist wie ein alter Pullover, den man doch nie wegwirft, obwohl er kratzt. Ich habe mir den Fatalismus des guten Bahnreisenden zugelegt: mal sehen, was kommt, und Fahrpläne sind relativ. In der lokführerlosen Nacht in Nürnberg hat das sehr geholfen: Ja, das ist ärgerlich. Aber es versinkt nun auch nicht die Republik im Abgrund.

Wer reist, geht ins Offene, im Guten wie im Schlechten. Der Koffer steht schon neben dem Schreibtisch, um 17.56 Uhr startet der ICE-Sprinter. Die Bahn hat mit Tickets zum Sparpreis geworben, die waren weg, bis ich auf der Homepage war. Werden wir in Erfurt stranden oder pünktlich sein? Wird wieder einer sein Leben erzählen? Werden die Vorräte des Bord-Bistros reichen? Vier Stunden Fahrt, mindestens, warten darauf, erlebt zu werden.

Ein Kommentar

  1. Der Artikel trifft recht genau meine Meinung. Auch meine Erfahrung ist, dass die Bahn mehrheitlich einigermaßen pünktlich ist.
    Erinnern wird man sich immer an die unangenehmen Zwischenfälle, von denen ich auch reichlich erlebt habe.

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